30. Januar 2014

Beitrag von Sascha Liebermann in der ungarischen Online-Zeitung VS

"A polgàri tàrsadalom feltétel nélküli alapja" ("Demokratie stärken, Freiheit ermöglichen, Leistung fördern – Aussichten eines Bedingungslosen Grundeinkommens"), so lautet der in der ungarischen Online-Zeitung VS erschienene Beitrag von Sascha Liebermann. In derselben Rubrik finden sich auch Beiträge von Enno Schmidt, Philippe van Parijs, Werner Eichhorst u.a.

29. Januar 2014

"Das große Rentengeschenk: Kassieren die Alten die Jungen ab?" - Ablenkungsmanöver von grundsätzlichen Fragen

Zum selben Thema hier ein interessanter Beitrag auf den Nachdenkseiten von Wolfgang Lieb, der etwas Licht in die verworrene Diskussionslage bringt. Das Umlagesystem bietet viele Vorteile gegenüber der Kapitaldeckung, doch die Bindung der Rentenzahlung an Erwerbstätigkeit ist der große Haken (auch bei Maybrit Illner). Der gegenwärtige Vorschlag der Großen Koalition bevorteilt wieder einmal den Ideal-Erwerbstätigen mit gewissem Arbeitslosengeld I-Bezug. Nicht aber diejenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen. In der Sendung wurde allzu deutlich, wie die bestehende Rentenversicherung an den Lebensrealitäten vorbeigeht. Auch wenn z.B. die "Mütterrente" mehr Anerkennung als bisher für Frauen bedeutet, die für ihre Kinder zuhause geblieben sind und bislang die Nachteile in der Rente zu tragen hatten, bleibt doch eines klar: Engagement in der Familie wird relativ zu Erwerbstätigkeit degradiert. Das war seit Einführung der Rentenversicherung in den 1950er Jahren ein Missstand, worauf der Sozialrichter Jürgen Borchert wiederholt hingewiesen hat.

Alles beim Alten also - obwohl genau das der Einsatzpunkt für eine Diskussion über das Bedingungslose Grundeinkommen hätte sein können.

24. Januar 2014

"Job guarantee" oder Bedingungsloses Grundeinkommen?

Diese Frage wirft ein differenzierter Beitrag über Mindestlohn von Günther Grunert, der auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde, auf. Der Autor beantwortet sie eindeutig. Eine Diskussion über die "job guarantee" halte er für fruchtbarer als eine über das BGE. Grunert stellt in seinem Beitrag differenziert Ergebnisse von Studien zum Mindestlohn und möglichen Wirkungen dar und weist auf offene bzw. nicht beantwortbare Fragen hin. Weshalb er eine "job guarantee" für sinnvoller hält, sagt er gegen Ende des Beitrages:

"Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns ausreicht, um die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland und insbesondere die wachsende Armut am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala wirkungsvoll zu bekämpfen. Dies ist zweifellos nicht der Fall. Der bedeutende US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky stellte mit Recht fest, dass ein gesetzlicher Mindestlohn nur in Verbindung mit einem „Arbeitgeber letzter Instanz“ („employer of last resort“, ELR) voll wirksam sein könne, denn ansonsten sei der wahre Mindestlohn für all diejenigen, die keinen Arbeitsplatz finden könnten, gleich Null: „Die wichtigste Tatsache, die den Diskurs über den Mindestlohn beherrschen sollte, ist die, dass er für die Arbeitslosen $ 0,00 pro Stunde beträgt […]“ (Übersetzung G.G.). Mindestlöhne und gleichzeitig weiter bestehende Arbeitslosigkeit seien unvereinbar: „Eine Welt mit gemessener Arbeitslosigkeit und Mindestlöhnen ist in sich inkonsistent; ein effektives Mindestlohnprogramm muss sicherstellen, dass Jobs für alle zum Mindestlohn verfügbar sind“ (Minsky 1986, S. 310; Übersetzung G.G.)..."

Diese Seite des Mindestlohns, nur dort direkt wirksam werden zu können, wo auch ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht, spielt in der BGE-Diskussion ebenfalls eine Rolle. BGE-Befürworter - ich auch - haben darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn für all diejenigen nichts bewirke, die nicht erwerbstätig sind. Das ist allerdings keine große Einsicht, auch wenn sie oft übersehen wird.

Weiter heißt es bei Grunert:

"...Minsky sprach sich deshalb bereits in den 1960er Jahren für ein ELR-Programm aus, bei dem der Staat allen Arbeitsuchenden, die bereit seien, zum Mindestlohn zu arbeiten, Jobs entsprechend ihren Fertigkeiten und Kenntnissen zur Verfügung stellen sollte (Minsky 1965, 1968, 1973, 1975, 1986). Nur der Staat sei in der Lage, ein „unendlich elastisches“ Angebot an Arbeitsplätzen zum Mindestlohn zu schaffen. Der Staat als „Arbeitgeber letzter Instanz“ zieht damit nicht nur eine Untergrenze für die Löhne, sondern auch für den privaten Konsum (und die aggregierte Nachfrage), und erhöht so die Wirksamkeit antizyklischer Fiskalpolitik (die Staatsausgaben steigen in der Rezession und fallen in der Aufschwungphase, in der die Arbeitnehmer in wachsendem Umfang vom Privatsektor „abgeworben“ werden). Das ELR-Programm würde die Mindestlohngesetzgebung überflüssig machen: „Arbeit sollte für alle verfügbar gemacht werden, die zum nationalen Mindestlohn arbeiten möchten. [...] Dies würde das Mindestlohngesetz ersetzen, denn wenn Arbeit für alle zum Mindestlohn vorhanden ist, steht den privaten Arbeitgebern keine Arbeit mehr zu einem Lohn unterhalb dieses Minimums zur Verfügung“ (Minsky 1965, S. 196; Übersetzung G.G.)..."

Sehen wir einmal davon ab, ob das tatsächlich von staatlicher Seite leistbar ist und sehen wir auch davon ab, ob solche Arbeitsplätze dem entsprechen, wo sich Menschen gerne engagieren wollen und Fähigkeiten dazu haben - was geschieht denn mit den anderen, die nicht "bereit" sind? Was erhalten die? Bleiben dafür die bislang bekannten bedarfgegrüften Leistungen samt aller Stigmatisierungsfolgen (zur Struktur von Stigmatisierung, siehe hier und hier)? So würde es wohl sein, der Vorrang von Erwerbsarbeit bliebe erhalten, alles anderes wären schöne Freizeitbeschäftigungen. Die Entscheidungmöglichkeiten für den Einzelnen würden dadurch nicht erweitert. Grunert interessiert dieser Zusammenhang offenbar nicht.

Weiter heißt es:

"...Man mag dies für eine völlig unrealistische Utopie halten. Jedoch gibt es im angloamerikanischen Raum inzwischen eine Reihe von Ökonomen, die Minsky’s ELR-Idee aufgegriffen und – teilweise unter anderem Namen wie etwa „job guarantee“ (JG) – weiterentwickelt haben (z. B. Wray 1998 und 2012; Mosler 1997-98; Mitchell 1998; Burgess/Mitchell 1998; Mitchell/Muysken 2008; Forstater 2003; Fullwiler 2005). Auch positive praktische Erfahrungen mit (begrenzten) ELR/JG-Programmen in neuerer Zeit liegen bereits vor, etwa in Argentinien oder Indien.[16] In jedem Fall erscheint mir eine Diskussion über ELR/JG-Programme weit fruchtbarer zu sein als etwa die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen, die hierzulande eine relativ große Resonanz in den Medien findet, obgleich die Idee vom Grundeinkommen wohl kaum weniger „utopisch“ ist als das ELR/JG-Konzept."

Warum aber erscheint ihm die Debatte über eine "job guarantee" fruchtbarer? Welche Möglichkeiten verschafft sie dem Einzelnen, sich den Ort des Wirkens zu suchen oder zu verschaffen, der ihm gemäß wäre und wo er seinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten könnte? Keine. Es bliebe die Hierarchie von Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten erhalten, sie würde sogar verfestigt. Nicht einmal erwägt der Autor die Auswirkungen eines ausreichend hohen BGE auf den Arbeitsmarkt, auf Leistungsmotivation und Arbeitsprozesse und stellt sie dem gegenüber, was ein Mindestlohn leisten könnte. Dass die Bedeutungen von Solidarität in einem Gemeinwesen und ihre Folgen auch für Wertschöpfungsprozesse gemeinhin übersehen werden, überrascht nicht. Es gibt wenige, die diesen Zusammenhang ernst nehmen, also die kulturellen und politische Voraussetzungen von Wirtschaftsprozessen beachten. Dabei würde gerade ein BGE durch den Modus der Bereitstellung, von einzelner Leistung nicht abhängig zu sein, Solidarität stärken und zugleich dazu aufrufen, sich zu fragen, wie der Einzelne beitragen kann. Es würde dabei jedoch freilassen, in welcher Form diese geschähe. So würden Möglichkeiten geschaffen, die heute nicht bestehen.

Sascha Liebermann

17. Januar 2014

Wie etwas loswerden, das man nicht haben will? Jürgen Borchert über das Bedingungslose Grundeinkommen

Im vergangenen Jahr ist Jürgen Borcherts Buch "Sozialstaatsdämmerung" erschienen. Der Verfasser ist Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht und hat sich wiederholt kritisch zur Verfasstheit des deutschen Sozialstaats geäußert. In Kapitel 9 (S.213-226) seines Buches widmet er sich dem Bedingungslosen Grundeinkommen. Seine Ausführungen stellen, das kann ohne Übertreibung gesagt werden, eine Abrechnung dar, eine, die viele Klischees bedient, sich nicht auf die differenzierte Diskussion einlässt - all das aber mit großem Selbstbewusstsein. Im gesamten Kapitel wird nicht eine Veröffentlichung aus der jüngeren oder auch älteren deutschen Grundeinkommensdiskussion zitiert. Pauschal wird über Modelle und Konzepte gesprochen. Verwiesen wird an den Stellen, die dem Verfasser gerade recht sind ,auf Autoren wie Karl Polanyi und Erich Fromm. In Rezensionen zum, Buch, die ich auf die Schnelle finden konnte, wird auf das BGE-Kapitel gar nicht eingegangen, z.B. bei Spiegelfechter und auch bei der taz. Spiegelfechter hat zum BGE allerdings ohnehin eine festgefügte Meinung.

Wie geht Borchert nun vor, worauf stützt er seine Abrechnung? Ich werde nachfolgend die Passagen besprechen, in denen er vermeintliche Belege anführt und aufzeigen, wie er mit diesen verfährt. Fettgedruckt sind nachfolgend die Schlagworte, die auf die Abschnitte verweisen.

Huebert Pierce Long

Schon der erste Hinweis ist irreführend und bezeichnend. Der amerikanische Senator Huebert Pierce Long, auf den sich Borchert bezieht, schlug in den 1920er Jahren nie ein BGE vor, soweit die verfügbaren Quellen dazu Auskunft geben. Vielmehr sah er vor, dass jedem bezugsberechtigten Amerikaner ein Mindesteinkommen zustehen sollte, allerdings mittelbar durch ein Mindest-Familieneinkommen, nicht als Individualeinkommen: "...to every worthy and deserving american family...". So steht es in seiner Schrift "Share Our Wealth" (S. 7 und 14). Was hat das mit einem BGE zu tun? Nichts. Schon dieser Hinweis Borcherts (S. 214) bezeugt, dass er sich mit der Sache nicht befasst hat.

Speenhamland

Die Speenhamland-Gesetzgebung im England des frühen 19. Jahrhunderts wird häufig als Beleg dafür bemüht, wohin es führen könne, wenn die Armen durch ein Mindesteinkommen unterstützt werden. Doch, war das durch die Gesetzgebung gegeben? Wer mit solchem Aplomb auftritt, wie Borchert es in seinem Buch tut, sollte den Forschungsstand zur Kenntnis genommen haben. Selbst ein schneller Blick bei Wikipedia (deutsch, englisch) hätte ihn zur Vorsicht mahnen müssen. Für seine Einschätzung verweist Borchert auf die Ausführungen Karl Polanyis in "The Great Transformation" (1944). Dieser kritisierte zwar die bisherige Rezeption "Speenhamlands", verließ sich aber gleichermaßen wie andere auf die historischen Quellen. Die herausragende dazu war ein Bericht der "Royal Commission" über die Folgen von Speenhamland aus dem Jahre 1834, also kurz nachdem die Gesetzgebung aufgehoben wurde. Ein Artikel von Fred Block und Margret Somers, "In the Shadow of Speenhamland" (2003), der online zugänglich und leicht auffindbar ist, hat sich mit der Rezeption der Speenhamland-Gesetzgebung und ihrer Ergebnisse in der dazu verfügbaren Literatur befasst. Sie legen in ihrem Beitrag ausführlich dar, wie schlecht die Datenlage zu Speenhamland ist, wie lückenhaft die Dokumentation, wie sehr die spezifische Situation Folge der Industrialisierung und einer wirtschaftlichen Problemlage im Süden Englands ist. Weiterhin gab es keine einheitliche Gesetzgebung, die von Speenhamland als Ganzem reden ließe und deswegen auch keine einheitliche Umsetzung. Darüber hinaus zeigen sie, wie sehr der Bericht der "Royal Commission", auf den sich bezogen wird, mit feststehenden Theoremen arbeitete und lediglich auf Befragungen einzelner Personen in den jeweiligen Gemeinden (parishes) beruhte. Um ein BGE im heute diskutierten Sinne ging es gar nicht, allenfalls wäre der Begriff Kombilohn treffend. Zuletzt ist es ein Anachronismus, die Situation zur Zeit Großbritannies im frühen 19. Jahrhundert mit der heutigen in Deutschland zu vergleichen, eine Feudalstruktur mit einer demokratischen. Soll man Borcherts Rezeption nun nachlässig, fahrlässig oder propagandistisch nennen?

Erich Fromm

Lediglich verwiesen wird auf eine vermeintliche Äußerung Erich Fromms in "Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle" (1966). Angeblich habe er dort festgestellt, dass die Menschheit noch nicht reif sei für ein Grundeinkommen (Borchert S. 216 f.). Borchert ist nicht der erste, der auf Fromm - der tatsächlich Vorbehalte hatte - verweist, er zitiert nicht einmal. Was schreibt nun Fromm?:

"Eine volle Wirksamkeit des Prinzips eines garantierten Einkommens für alle ist nur zu erwarten, wenn es gleichzeitig gekoppelt ist an (1.) eine Änderung unserer Konsumgewohnheiten, das heißt der Umwandlung des homo consumens in einen produktivtätigen Menschen (im Sinne Spinozas); (2.) die Herausbildung einer neuen geistigen Haltung des Humanismus (in theistischer oder nicht-theistischer Form) und (3.) eine Renaissance echter Demokratie (etwa in einem neuen Unterhaus, in dem die Entscheidung durch Integration der Beschlüsse von Hunderttausenden von kleinen Gruppen [face-to-face groups] zustande kommen, durch die aktive Beteiligung sämtlicher Mitarbeiter in allen Unternehmen und in jeder Art von Management usw. - vgl. meine Vorschläge am Ende von The Sane Society,1955a, GA IV, S. 224-239)..."

Fromm spricht nicht davon, dass solche Veränderungen Bedingung oder Voraussetzung der Einführung eines BGE (was er genau vor Augen hatte, ist nicht so klar) seien, sondern seiner "vollen Wirksamkeit. Das sind zwei paar Schuh. Eine Einführung könnte sehr wohl stattfinden und die Änderungen sich erst in der Folge ergeben, so lässt sich schlussfolgern. Anders als Borchert, der letztlich mit seiner Kritik dem Bürger seine Mündigkeit abspricht, äußert sich Fromm gar nicht zur Frage der Einführung an dieser Stelle. An Fromms Einschätzung könnte durchaus Kritik geäußert werden, wenn er den Menschen in seiner Zeit nur als "homo consumens" sieht, nicht aber, dass auch damals schon die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und die verschiedensten Entscheidungen über ihre Lebensführung selbst zu treffen hatten. Seine Bemerkung zur Demokratie erinnert eher an seine deutsche Herkunft, wenn er Staatsbürger als tragendes Fundament eines Gemeinwesens nicht von Mitarbeitern eines Unternehmens unterscheidet. Demokratie ist nicht erst dann eine, wenn sie bestimmte Ziele erreicht hat, sondern wenn nach den ihr gemäßen Verfahren Entscheidungen des Souveräns - sei es parlamentarisch, sei es direktdemokratisch - zustande kommen. Über die Ziele wird immer gestritten werden, das ist ein wesentliches Moment von Demokratie.

Weiter heißt es an dieser Stelle:

"...Der Gefahr, daß ein Staat, der alle ernährt, zu einer Muttergottheit mit diktatorischen Eigenschaften werden könnte, kann nur durch eine gleichzeitig Wirksame Vermehrung demokratischer Verfahren in allen gesellschaftlichen Bereichen begegnet {184} werden. (In Wirklichkeit verfügt ja heute der Staat bereits über außerordentliche Macht, ohne diese Möglichkeiten einzuräumen.)"

Worauf bezieht sich Fromm hier, was meint er? Wer ist der Staat? "Diktatorisch" kann ein Staat nur werden, wenn er dafür Rückhalt bei den Bürgern hat, das lehrt die Geschichte. Das lehrt auch der "Erfolg" der Agenda 2010. Genauso gilt, dass eine Demokratie nur lebendig ist, wenn die Bürger sie ernst nehmen und sie als ihre Angelegenheit begreifen. Würde Fromms These auf die Verhältnisse in Deutschland umgelegt werden, müsste man sagen: Die Haltung, das andere stets zu ihrem Glück gezwungen oder mit deutlich bevormundenden Mitteln dahin gedrängt werden müssen - sei es durch den Markt als Erziehungstechnik oder die paternalistische Fürsorge -, diese Haltung ist nun mal sehr verbreitet. Deswegen ist die Lage, wie sie ist. Es liegt also nicht an dem "Staat", das wäre nur ein Abschieben der Verantwortung auf andere. Der Staat macht, was Mehrheitsauffassung ist.

Dieser Abschnitt bei Fromm hat also in der Tat etwas Selbstentmündigendes, denn es gilt nicht, zu warten, bis der "Staat" etwas einräumt, die Bürger müssen es sich auf demokratischen Wegen verschaffen.

Es gibt noch eine weitere Passage in dem Text Erich Fromms, die häufig zitiert wird (so auch von Franz Segbers, siehe meinen Kommentar dazu hier):

"Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des garantierten
Einkommens für alle müssen auch noch andere Forschungen betrieben werden: psychologische,
philosophische, religiöse und erziehungswissenschaftliche. Der große Schritt zu
einem garantierten Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg haben, wenn Veränderungen
in anderen Bereichen mit ihm Hand in Hand gehen."

Wie schon oben macht Fromm diese Forschungsarbeiten nicht zur Voraussetzung der Einführung eines BGE, er hält sie nur für wichtig, damit ein BGE Erfolg haben kann. Es kann also keine Rede davon sein, dass Fromm salopp gesprochen, die Bürger nicht für reif halte, wie Borchert schreibt, er hat nur Vorbehalte, ob ohne solche Veränderungen auch die erhofften Wirkungen eintreten werden.

Fromm übersieht hierbei, dass in den USA zu dieser Zeit der demokratische Nationalstaat schon bestand und um seine Deutung gerungen wurde. Es war die Zeit der Bürgerbewegung, die dazu führte die Diskriminierung zu kritisieren und für Veränderungen zu streiten. Der homo consumens war also damals schon nur ein Aspekt des Lebens, nicht das ganze. Borchert macht sich nicht einmal die Mühe, sich mit Fromms Überlegungen zu befassen. Er greift zwar gerne zu Autoritäten, um seine Thesen zu belegen, nimmt von ihnen allerdings nur, was gefällt oder gar nicht gesagt wird.

Finanzierung

Zur Finanzierungsfrage äußert er sich ähnlich salopp: "Auch die Tatsache, dass viele Modelle schon vom reinen Verteilungseinkommen her die Grenzen des Volkseinkommens sprengen, kann die Jünger der Idee kaum bremsen" (Borchert, S. 217). Welche meint er denn? Da keine Modelle genannt werden, ist die Kritik auch nicht nachvollziehbar, sorgt aber in ihrer Pauschalität dafür, beim unbefangenen Leser den Eindruck zu erwecken, die Sache sei nicht durchdacht. Es gibt nun verschiedene Finanzierungsberechnungen und ihre Brauchbarkeit bzw. Tragfähigkeit ist umstritten. Dass Finanzierungsberechnungen stets nur ceteris paribus gelten, wie er als offenbar große Einsicht herausstellt, ist eine Binsenweisheit. Es führt im Leben nichts daran vorbei, dass nicht gewusst werden kann, was am nächsten Tag auf einen zukommt. Borchert baut einen Popanz auf, um seine eigene Position zu stärken.

Menschenbild

Die Debatte über das Menschenbild, das ist der nächste Punkt, der angesprochen wird, komme einer "quasi-religiösen Arena" gleich (Borchert, S. 217). Speenhamland habe doch in "aller Deutlichkeit" gezeigt, wohin ein BGE führe. Erstaunlich ist, wie Borchert hier auf seinem Vergleich von Äpfeln mit Birnen beharrt. Dass es einer Wertschöpfung bedarf, damit ein BGE bereitgestellt werden kann, wer streitet das denn ab? Borchert unterstellt genau das jedoch den BGE-Befürwortern, Konzepte nennt er hier keine. Was er als "quasi-religiöse Arena" geißelt, bestätigt er mit seinen Ausführungen selbst. In der Tat ist die Frage, welche Auswirkungen von einem BGE zu erwarten sind, eine des Menschenbildes, aber nicht eines ausgedachten, sondern des real vorfindlichen. Das Menschenbild der Demokratie setzt gerade voraus (siehe meinen früheren Beitrag), was Borchert für so abwegig hält, obgleich er auf seine Bedeutung an anderer Stelle selbst verweist (siehe unten Verantwortung)

Arbeitsverpflichtung

Aufschlussreich für Borcherts Haltung ist diese Passage, die auf die voranstehenden folgt:

"Es ist ja richtig, dass sich industriell mit minimalem Einsatz von Arbeitskraft ein maximaler Überschuss an Konsumgütern herstellen lässt. Das gilt aber nicht für den Pflegebereich, Gesundheitsdienstleistungen und die Landwirtschaft. Bei Ersteren steigen die Bedarfe sogar exponentiell an; humane Pflege bedeutet das Schenken von Zeit, und das lässt sich naturgemäß nicht rationalisieren. Ähnliches gilt für den Fall, dass die Geburtenzahlen wieder steigen sollten, auch für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung von Kindern, denn diese haben sogar einen noch höheren Bedarf an individueller Zuwendung." (Borchert, S. 218)

Die Beschreibung der unterschiedlichen Leistungen, Produktion und Personendienstleistung, sind zutreffend. Doch, was folgt daraus? Gerade für die von ihm genannten Tätigkeiten bedarf es Mitarbeiter, die sich gerne in den Dienst der Bedürfnisse anderer stellen. Jemanden in einen solchen Beruf zu drängen, würde genau das Gegenteil dessen erreichen, was gut wäre. Wenn aber nicht frei gewählt werden kann, sondern dies unter der Verpflichtung geschieht, Einkommen erzielen zu müssen, ist das für die Ausübung des Berufs von Nachteil. Borchert, ohne das auszusprechen, argumentiert zwischen den Zeilen wie diejenigen, die beklagen, mit einem BGE würden die unangenehmen oder anstrengenden Tätigkeiten nicht mehr gemacht werden. Ja, wollen wir denn, dass Leute diese Tätigkeiten übernehmen, die sie nicht ausüben möchten? Wenn der Bedarf an Mitarbeitern in diesen Bereichen nicht gedeckt werden kann, dann bleibt offensiv dafür zu werben und notfalls eine öffentliche Debatte anzustoßen, um Menschen dafür zu gewinnen, sich in diesem wichtigen Bereich zu engagieren, das gilt auch heute. Weshalb fällt kein Wort über die schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege, über den relativ geringen Lohn, die Anstrengungen? Das wäre auch eine Erklärung dafür, weshalb manche in diesem Beruf nicht mehr tätig sein wollen.

Europa

Was die Rechtslage in Europa betrifft, das Europarecht, das Borchert (S. 219 f.) geltend macht, erleben wir gerade eine Diskussion darüber, wie es nun ist mit Arbeitslosengeld II-Leistungen für EU-Bürger in Deutschland. Dafür können, falls nötig, Regelungen geschaffen werden (siehe hier). Wo das Europarecht es untersagen sollte, müsste es selbst Gegenstand einer Diskussion werden, falls es einer nationalstaatlichen Einführung eines BGE entgegenstünde.

Verantwortung

Er schreibt:

"Die Prüfung des BGE fördert als Erstes nämlich die einfache Feststellung zutage: Das BGE ist in Wahrheit nicht bedingungslos und kann es gar nicht sein! Ganz einfach deshalb, weil es mit der Bedingung steht und fällt, dass ein Teil der Bürger für den Lebensunterhalt anderer Bürger zahlt. Dabei ist der Freiheit der einen zum Erwerbsverzicht denknotwendigerweise die Unfreiheit der anderen komplementär, die zahlen und abgeben müssen. Die einen sind gleicher, die anderen dafür unfreier..."

Die einen, so ließe sich das umformulieren, leben auf Kosten anderer (siehe verschiedene Kommentare von mir dazu). Die Last wird hier nur bei denen gesehen, die erwerbstätig sind, als seien diese Leistungen das Herausragendste überhaupt. Was ist mit den anderen, die in diese Bilanz gar nicht einbezogen werden: Familie, bürgerschaftliches Engagement? Dass dieser bilanzierende Blick ohnehin eine Gemeinschaft von Bürgern fremd ist, in der immer alle für alle einstehen müssen und von ihnen abhängig sind, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Zu bilanzieren, wer was leistet, ist Symptom für ein Problem, und zwar dafür, dass Solidarität wie ein Vertrag mit festgelegten Leistungszwecken missverstanden wird. Das erforderte genau eine Debatte über das Gemeinwesen und die notwendige Solidarität, nicht aber ein Bilanzdenken.

"...Diesen Grundkonflikt verbergen manche Befürworter des BGE wie Nebelkrähen ihre Ostereier, indem sie die "staatliche Gemeinschaft" für das BGE verantwortlich machen, die erst einmal allen das Gleiche zahlen und später dann mit deren wachsenden Einkommen verrechnen soll, sofern sie welche erzielen..."

Borchert hat wohl eine Negative Einkommensteuer vor Augen oder meint er nur das Verhältnis von Nettozahler und -empfänger von Steuern? Wie im ganzen Buch bleibt im Dunkeln, auf wen er sich bezieht. Zahlreiche Veröffentlichungen und öffentliche Stellungnahmen, dass nichts bereitgestellt werden kann, was nicht auch hervorgebracht wurde, es ein BGE nicht ohne Wertschöpfung geben kann. Nachzulesen ist das online. Das kümmert Borchert nicht, er fällt in seiner Undifferenzierheit hinter manchen Kritiker zurück. Davon abgesehen: das Verhältnis von Nettoempfänger und -zahler besteht immer, auch heute.

"...Das genau ist aber die Bedingung. Der Staat spielt im Märchen vom BGE [oder eher von Borchert? - SL] damit die transzendentale Wunderkuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. In Wahrheit sind wir jedoch alle dieser Staat, und jeder von uns hat prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten, muss deshalb prinzipiell auch immer gleichzeitig Verantwortung für sich und andere tragen[...]" (Borchert, S. 222).

Ja, dem letzten Teil würde kaum jemand widersprechen. Und in der Tat: es gibt BGE-Befürworter, denen das nicht klar ist oder die davon nichts wissen wollen. Was aber hat das mit der Idee zu tun? Würde Borchert deswegen, weil es der Wertschöpfung bedarf, folgern, Erwerbstätigkeit und Konsum, denn vor allem so wird Steueraufkommen beschafft, seien der höchste Zweck? Alles, was nicht Erwerbstätigkeit ist, ist nichts? An anderen Stellen des Buches spricht er davon, wie sehr Familien z.B. von der Vorherrschaft der Erwerbstätigkeit bedrängt werden und was von früher Krippenbetreuung zu halten sei (Borchert, S. 73 f.; siehe auch S. 32 f.). In anderen Äußerungen begrüßt er die elitäre Elterngeldpolitik und akzeptiert die Zweiklassenelternschaft, die dadurch geschaffen wird. Das überrascht. Dafür, dass er Familien im Blick hat, könnte ihm zugestimmt werden. Genau, müssten wir ihm zurufen, das spricht für ein BGE und nicht dagegen. Es scheint jedoch, als halte er an der Vorstellung fest, dass es für die Kinder und das Familienleben als ganzes nur wichtig sei, die Mutter zuhause zu haben, nicht aber den Vater. Die Verbindung zum BGE nicht zu sehen, daran kann ihn nur sein Weltbild hindern, nicht aber, was er teils selbst ausführt.

"...Wer sich selbst helfen kann, muss dies in unserer Werteordnung [Borchert greift hier auf das Grundgesetz zurück, SL] also tun und darf nicht andere dafür verantwortlich machen. Zahlungen des Staates an Bürger, die zur Selbsthilfe in der Lage sind, sind damit denknotwendig ausgeschlossen." (Borchert, S. 223)

Und der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer? Ist er nicht auch eine indirekte Zahlung? Dürfen ihn diejenigen nicht gelten machen, die zur Selbsthilfe in der Lage sind? Weiß Borchert nicht, dass es ihn gibt? Kaum vorstellbar. Doch auch andere, wie Heiner Flassbeck, argumentierten vor Jahren schon ähnlich und meinten, weshalb denjenigen etwas geben, die es nicht brauchen. Sie erhalten es indes heute auch, weil das Gemeinwesen es so will. Weshalb ihnen also ein BGE vorenthalten? Der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer leitet sich davon ab, ein Existenzminimium bereitzustellen, Es ist keine steuertechnische Spielerei, vielmehr folgt es aus der Verfasstheit des Gemeinwesens als Gemeinschaft von Staatsbürgern. Und deren Stellung ist auch material zu schützen.

Borcherts Buch, in dem er nur auf wenigen Seiten auf das BGE eingeht, bietet in den anderen Kapiteln manch interessante Überlegung. Seine Ausführungen zum BGE bezeugen allerdings, dass er es schlicht loswerden will. Es passt ihm nicht, und zwar so wenig, dass er sich nicht einmal damit ernsthaft auseinandersetzen will. Nur so ist der starke qualitative Abfall zwischen diesem Teil des Buches und den anderen wohl zu erklären.

Sascha Liebermann

15. Januar 2014

"Europäische Bürgerinitiative Grundeinkommen" abgeschlossen. Scheitern oder Erfolg?

Das Sammeln von Unterschriften für die EBI Grundeinkommen ist nun abgeschlossen. Mit rund 285 Tsd. Unterschriften in den EU Mitgliedstaaten wurde das Ziel von einer Million nicht erreicht. Eine Einschätzung des Netzwerk Grundeinkommen, weshalb nur etwa ein Drittel der notwendigen Stimmen - in Deutschland mit etwa 40 Tsd. weniger als bei den Petitionen von Susanne Wiest (etwa 53 Tsd.) und Inge Hannemann (etwa 90 Tsd.) - erreicht wurde, nennt mögliche Gründe für das Scheitern. Es ist immer schwer zu sagen, woran ein solcher Verlauf gelegen hat. Drei Gründe, die sicher von Bedeutung sind, werden dabei allerdings ausgespart.

Da ist zum einen die Konzentration der Kampagne darauf, Stimmen vor allem online zu sammeln, zumindest liegt der geringe Anteil auf Papier von etwa 2700 Unterschriften das nahe. Gemessen an der Zahl, die online zustande kam, hätten es durch ausgiebige und wiederholte Straßenaktivitäten womöglich viel mehr sein können. Für ein solches Vorhaben ist eine persönliche Begegnung mit den Bürgern im öffentlichen Raum wichtig. Es geht ja immerhin um eine res publica, eine Sache von öffentlichem Interesse. Etwas ändern zu wollen ist immer eine Frage danach, ob es die, die es als Initiative anstreben, ernst meinen, ob sie glaubwürdig sind. Das lässt sich besser einschätzen, wenn einem die Personen vor Augen treten. Das Sammeln im öffentlichen Raum eröffnet zugleich immer Gespräche und schafft eine konkrete Erfahrung - für beide Seiten. Wie so etwas vor sich gehen kann, hat die Volksinitiative in der Schweiz gezeigt, die nach anfänglichen Schwierigkeiten, die notwendigen Unterschriften nicht nur erreicht, sondern sogar weit übertroffen hat. Wer Unterschriften möchte, muss auf andere zugehen, und zwar konkret (siehe "Begegnung der Bürger - ein Erfahrungsbericht vom Unterschriftensammeln in der Schweiz"). Online zu sammeln ist ungleich abstrakter und unverbindlicher, das zumindest legen auch die Erfahrungen mit der Petition von Susanne Wiest nahe. Denn aus den mehr als 52 Tsd. Unterschriften sind nicht tausende aktiver BGE-Befürworter geworden. Die letzte Demonstration im September 2013 - nach Angaben des Netzwerk Grundeinkommen mit etwa 2500 Teilnehmern - war in dieser Hinsicht niederschmetternd oder positiv ausgedrückt: desillusionierend.

Vollständig verwundern muss, dass in den Ausführungen des Netzwerks kein Wort zum unverbindlichen Charakter der EBI gesagt wird. Auch die Piratenpartei scheint dies nicht zu sehen, wie aus ihrer Stellungnahme hervorgeht. Wenn Bürger kein verbindliches, rechtsgültiges Votum abgeben, sondern nur eine Bittschrift, ein Gesuch einreichen können, mehr ist eine Petition nicht, dann ziehen sie die richtigen Schlüsse daraus, wenn sie sich nicht beteiligen. Der unverbindliche Charakter wirkt in doppelter Hinsicht. Er hält diejenigen zurecht davon ab, sich zu beteiligen, die die Unverbindlichkeit erkannt haben und er frustriert diejenigen, die sich in der Hoffnung beteiligt haben, doch etwas zu erreichen, dann aber erfahren, das aus der Petition nichts Verbindliches folgt (siehe unseren früheren Kommentar und die Einschätzung von Gerald Häfner).
Das gilt auch für die sogenannten Bürgerbeteiligungen, die sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit erfreuen.

[Update: 23.1.: Meine Bezugnahme auf die Piratenpartei war nicht ganz zutreffend. Den Schlusspassus ihrer Pressemitteilung hatte ich übersehen, der so lautet: "Um zu einem effektiven Mitbestimmungswerkzeug zu werden, muss die Europäische Bürgerinitiative ausgebaut werden. Bei komplexen Themen wird es schwierig, in nur einem Jahr eine Million Unterschriften zu sammeln. Das ist praktisch nur von großen Organisationen mit viel Geld zu meistern. Außerdem müssen erfolgreiche Initiativen auch tatsächlich einen Gesetzgebungsprozess in Gang setzen, anstatt der Kommission lediglich zur Beratung vorgelegt zu werden. Nur durch diese Reformen kann der Name “Europäische Bürgerinitiative” halten, was er verspricht«, fügt Reda an." Diese Forderung müsste allerdings beinhalten, dem Europäischen Parlament volle Kontroll- und Initiativrechte zu geben und dadurch die Stellung der Europäischen Kommission zu relativieren, sonst hätte eine Bürgerinitiative größere Bedeutung als das Parlament.]

Drittens, und das ist symptomatisch, wird die Bedeutung konkreter politischer Vergemeinschaftung mit vollen Rechten unterschätzt. Es sind notwendigerweise die Staatsbürger bzw. die Unionsbürger (eine Art Bürger ohne volle Kontrollrechte), die über Wohl und Wehe eines Gemeinwesens bestimmen und nicht diejenigen, die sich in einem Land aufhalten ("Bevölkerung"), aber einem anderen Land gegenüber als Bürger verbunden sind. Demokratie kann es nicht ohne Staatsbürger geben. Das Netzwerk stellt diesen Zusammenhang nicht her, sondern hebt durch die Rede von der "Bevölkerung" sogar den Unterschied zwischen Wohnbevölkerung und Staatsbürgern auf, als seien beide dasselbe (siehe auch die Stellungnahme von Werner Rätz, attac AG Genug für alle). Das ist zwar in gewisser Hinsicht gute deutsche Tradition, wie im Reichstagsgebäude an der Installation von Hans Haacke zu sehen ist, aber nur die Fortsetzung des Obrigkeitsstaates.

Zu überlegen wäre auch, ob nicht ein gewisser Aktionismus dafür verantwortlich ist, dass die Diskussion in Deutschland etwas nachgelassen hat. Die Neigung dazu, Großveranstaltungen auf die Beine zu stellen, kann auch ermüden. Nun wurde flugs das nächste Netzwerk gegründet "Unconditional Basic Income Europe". Wer sitzt da wohl drin? Dass bestimmte Zirkel in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen und Bündnisse in eine Richtung eingegangen werden, die die Diskussion gerade nicht offenhalten (siehe oben die Stellungnahme von Werner Rätz) mag auch dazu beitragen. Statt dieser Vergruppung und Engführung benötigt die Diskussion um ein BGE vor allem Beharrlichkeit und Geduld, Offenheit gegenüber Kritik und ernsthafte Auseinandersetzung mit Einwänden. Die gelebte Vielfalt in der Grundeinkommensdiskussion war sehr wahrscheinlich der Grund für die große Resonanz schon in den ersten Jahren.

Beschwörungen werden vorgenommen: "Dennoch war die EBI Grundeinkommen ein politischer Erfolg. Sie brachte die größte Kampagne zur Idee des Grundeinkommens, die die Welt bisher gesehen hat. Mehr Menschen als je zuvor in Europa haben nun von dieser Idee erfahren und werden sie verbreiten."

Wer sagt denn, dass die Menschen die Idee verbreiten werden? Wer kann das wissen? Typischer Polit-Sprech dringt durch, der Niederlagen zu Erfolgen verklärt. Dass gerade Länder, aus denen man bislang wenig bis gar nichts zum BGE gehört hatte, mit dem Sammeln der Unterschriften relativ besser abschnitten als Deutschland, ist überraschend. Doch, wie ist das zu verstehen, was steckt dahinter? Wird in diesen Ländern nun eine Diskussion angestoßen?

Weiter heißt es: "In Mitgliedsländern der EU, aus denen bisher nichts Nennenswertes zum Grundeinkommen zu hören war – zum Beispiel Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Estland und Ungarn – , wurde das Grundeinkommen durch die EBI zum Thema und es entstanden erste Initiativgruppen. In Ländern wie Frankreich, in denen noch keine umfassenden Grundeinkommensnetzwerke existierten, wurden sie gegründet. Der Aufbau nationaler Initiativen und Netzwerke ist also gelungen. Die Anstrengungen für die EBI dürften maßgeblich dazu beigetragen haben."

Ist das gewiss oder ein Wunsch? Oder nur das Klopfen auf die eigenen Schultern?

Für die deutsche Diskussion wäre es hilfreich, die Erwartungen nicht zu hoch zu hängen und keine Illusionen zu schaffen. Das steht dem Engagement für ein BGE in keiner Weise entgegen, es entspräche vielmehr dem Realitätsprinzip.

Sascha Liebermann

12. Januar 2014

"Deutschland im Stress" eine Reportage...

...des Mitteldeutschen Rundfunks. Interessant daran ist, was krankmachend zu sein scheint: die Fixierung auf den Beruf und zugleich das Getriebensein.

11. Januar 2014

"Jeder ein König"...

...unter diesem Titel hat die taz einen Beitrag zum Bedingungslosen Grundeinkommen veröffentlicht. Auch das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) kommt darauf zu sprechen: "Nehmen Roboter den Amerikanern die Stellen weg?".

4. Januar 2014

Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Ganztagsschulen...

...so scheint sich die bevorstehende Große Koalition das vorzustellen, wenn dieser Bericht vom Oktober zutrifft:

"...Auch die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Dorothee Bär (CSU), kündigte an, die Union werde sich in dieser Legislaturperiode für den Ausbau der Ganztagsschulen engagieren. Dabei müssten auch „außerschulische Kräfte“ wie Vereine, Musikschulen oder ehrenamtliche Strukturen einbezogen werden, sagte Bär der F.A.S. Ziel sei, dass Eltern Beruf und Familie in Einklang bringen könnten. Eine Verpflichtung zum Besuch einer Ganztagsschule lehnt die Union ab. „Das Angebot soll freiwillig sein“, sagte Bär.

Die SPD argumentiert ebenfalls mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Darüber hinaus hält sie Ganztagsschulen für die überlegenen Bildungsstätten. „Wir brauchen den Ausbau qualitativ hochwertiger Ganztagsschulen, um Kinder besser zu fördern und mehr Chancengleichheit im Bildungssystem herzustellen“, sagte Caren Marks, die Sprecherin der AG „Familie, Senioren,Frauen und Jugend“ der SPD-Bundestagsfraktion."

Wieder einmal wird deutlich, dass Bildung nicht als solche betrachtet und nach den angemessenen Voraussetzungen dafür gefragt wird. Vielmehr leitet sich der Ruf nach der Ganztagsschule von der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" her. Wie auch immer man zur Ganztagsschule steht, sie führt dazu, dass Kinder institutionell unter ständiger Beaufsichtigung sind und nicht die ihnen nahe Lebenswelt frei erkunden können. Dass Kinder und auch Jugendliche im Schulalter nicht ständig auf dem Schoß der Eltern sitzen wollen und sie bei sich haben müssen, ändert nichts daran, dass sie aber dennoch ansprechbar sein sollen, wenn etwas anliegt. Auch das ist durch die Ganztagsschule erschwert. Wer hier nun einwendet, es sei doch besser, dass es überhaupt Ansprechpersonen gibt, wenn die Eltern berufstätig sind, nimmt diese Entwicklung einfach hin. Es wäre indes gerade zu fragen, ob diese Entwicklung sinnvoll ist oder nicht eher Möglichkeiten geschaffen werden sollten, die den Eltern freier erlauben, darüber zu befinden, wie sie die Aufgabe Elternschaft für sich beantworten wollen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen würde den Raum dafür schaffen, ohne vorzuschreiben, wie er zu füllen wäre (siehe meine früheren Kommentare hier, hier und hier).

Sascha Liebermann

3. Januar 2014